SOLIDARITÄT - aber nicht für Arbeitssuchende
In den ersten Monaten der Corona-Pandemie wurde die großartige gesellschaftliche Solidarität noch allseits gelobt, nicht zuletzt mit Verweis auf die stabilen Strukturen des österreichischen Sozialstaats, zu denen ein leistungsfähiges Gesundheitssystem ebenso gehört wie beispielsweise auch die Möglichkeit der Kurzarbeit. Aber nicht nur versicherungsbasierte Leistungen halfen die Folgen der Pandemie und der Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Virusinfektion zu lindern, sondern auch Leistungen, die von allen Steuerzahlenden gemeinsam getragen wurden. So kamen Unternehmen betroffener Branchen durch die steuerfinanzierten Coronahilfen in den Genuss äußerst umfangreicher sozialer Transferleistungen. Es wurde deutlich: Nicht nur armutsgefährdete Einzelpersonen und Familien profitieren von gesellschaftlicher Solidarität und einer gemeinsam getragenen Absicherung gegen Risiken, sondern auch viele Unternehmen. Das österreichische Sozialmodell mit Sozialpartnerschaft, Sozialversicherungssystemen und Sozialorganisationen wie Caritas, Diakonie, Volkshilfe, Hilfswerk, etc. schien sich in der Krise bewährt und die vor einigen Jahren in Mode gekommene Polemik gegen Sozialversicherung, Sozialpartner und „Sozialindustrie“ schien sich erledigt zu haben.
Angriffe auf das Sozialmodell
Umso irritierender ist, dass nun ausgerechnet von Akteuren, die den Unternehmen nahestehen, brachiale Angriffe gegen wichtige Teile dieses Sozialmodells vorgetragen werden. Ziel der Attacken sind Menschen ohne Erwerbsarbeit, die „nach dem Lockdown, wo sie teils in Kurzarbeit zu Hause gesessen sind, generell nicht mehr arbeiten [wollen]. Ihnen ist die Lust zum Arbeiten vergangen.“– so etwa Mario Pulker, Sprecher der Wirtschaftskammer für die Gastronomie, also eine Branche, die zuletzt durchaus die Solidarität der Steuerzahlenden wahrnehmen konnte. Weiters werden Vorschläge für eine degressive Gestaltung des Arbeitslosengeldes, für eine Forcierung des Sanktionsregimes sowie eine zeitliche Begrenzung (oder gar Abschaffung?) der Notstandshilfe bzw. der Zuverdienstmöglichkeiten geäußert.
Merkwürdiger Ton
Es kann nicht bestritten werden, dass einige Branchen unter einem erheblichen Fachkräftemangel leiden. Es kann aber auch nicht bestritten werden, dass es Fachkräfte gibt, die intensiv eine zu ihrer Qualifikation passende Erwerbstätigkeit suchen. Beides gegeneinander auszuspielen, ist nicht zielführend. Es soll hier gar nicht um die Frage gehen, ob in bestimmten Branchen der Fachkräftemangel auch an schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen liegt. Es soll hier vielmehr um den merkwürdigen Ton gehen, in dem die Forderungen nach härteren Sanktionen und reduzierten Versicherungsleistungen vorgetragen werden. Es wird suggeriert, dass es genügend Erwerbsarbeit für alle Arbeitssuchenden gäbe, was aber bei Einbeziehung der verdeckten Arbeitslosigkeit die Zahlen des AMS keineswegs hergeben. Gegen diese Rhetorik, die Menschen auf Arbeitssuche unterstellt, dass sie schon selbst schuld seien, wenn sie keine Erwerbsarbeit fänden, wehren sich die Deutsche Bischofskonferenz schon seit 1982, die österreichischen Bischöfe seit 1990 im Sozialhirtenbrief. Mit sämtlichen vorliegenden Studien gehen sie davon aus, dass die weit überwiegende Mehrheit der Arbeitssuchenden tatsächlich eine Arbeit sucht.
Vergiftung des solidarischen Miteinanders
Auch Aussagen wie jene, dass es ja nicht sein könne, „dass die Allgemeinheit die Arbeitsunwilligkeit bezahlt“, wie es Gastronomiesprecher Pulker kernig formuliert, vergiften nicht nur das solidarische Miteinander in der Gesellschaft, sondern geht auch an der Wirklichkeit des Sozialversicherungssystems vorbei. Bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um ein auch von den Arbeitnehmenden selbst finanziertes Solidarsystem – und damit um quasi eigentumsförmige Ansprüche der Versicherten. Diese besondere Qualität der Ansprüche sollte in der Diskussion wenigstens mitbedacht werden. Wegen dieses entscheidenden Vorzugs der Sozialversicherung gegenüber einer rein steuerfinanzierten sozialen Absicherung hat sich die katholische Soziallehre seit jeher entschieden für das Sozialversicherungssystem eingesetzt.
Die scharfe Rhetorik ist auch deshalb erstaunlich, weil das Gesetz bekanntlich längst Sanktionen vorsieht, wenn Arbeitsuchende eine zumutbare angebotene Arbeitsstelle nicht annehmen. Auch der Berufsschutz fällt nach 100 Tagen, so dass Arbeitsuchende in die Breite vermittelt werden können. Dass zu den Kriterien der Zumutbarkeit Gesichtspunkte wie Kinderbetreuung gehören, sollte heute niemand mehr im Ernst kritisieren.
Schule der Solidarität?
Die Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre haben die Hoffnung keimen lassen, dass die Krise auch eine Art „Schule der Solidarität“ sein könnte, dass uns also vor Augen geführt wird, wie sinnvoll, leistungsfähig und funktional die Strukturen des österreichischen Sozialmodells sind. Dass aus Kreisen, die Solidarität in besonderem Maße genießen durften, so bald nach diesen Erfahrungen so scharfe Angriffe zu Lasten ausgerechnet von Menschen ohne Arbeit laut werden, ist schlicht traurig. Es ist gut, dass die Kirche mit der Bischöflichen Arbeitslosenstiftung an der Seite dieser Menschen steht.
Der Textauszug stammt aus der Zeitschrift der Bischöflichen Arbeitslosenstiftung info 131| September 2021.